Emanuel
LEVINGER

1865 - 1949 I
Bahnhofstraße 10
Stolperstein verlegt am 03.07.2016
Emanuel LEVINGER Bahnhofstraße 10

Ein jüdischer Textilkaufmann und sein Leben zwischen Geschäft, Verfolgung und Emigration

Emanuel Levinger wurde am 20. Juni 1865 als dritter Sohn von Wolf Levinger und Fanny Levinger (geb. Neuburger) in Gailingen geboren.

Seine Mutter, (21. September 1837 in Gailingen geboren und am 2. Juli 1913 gestorben) und sein Vater (geb. in Gailingen am 20. Juni 1829), heirateten am 10. Mai 1860 in Gailingen, wo die Familie fortan auch lebte.

Emanuels Vater starb bereits am 22. Juli 1879 in Chur, als Emanuel gerade 14 Jahre alt war.

Emanuel selber hatte mindestens 10 Geschwister, von denen aber nur fünf das Erwachsenenalter erreichten. Besonders zu erwähnen ist sein ältester Bruder, Salomon Levinger (geb. am 13. Juni 1861 in Gailin­gen), der Anna Epstein heiratete und bereits um 1893 nach Konstanz kam, wo er ein Geschäftslokal in der Hüetlinstraße 10 hatte. Wohnhaft war er in der Kanzleistraße 11. Er starb am 7. Juni 1933 in Genf. Salomon, auch Sally genannt, war damit Wegbereiter für Emanuel und auch für den jüngeren Bruder Simon (siehe Biografie Simon Levinger), der um 1897 in Konstanz eine Metzgerei eröffnete. Noch früher (1875) nach Konstanz gekommen war der Onkel von Sally und Emanuel, Fannys Bruder Julius Neuburger, der sich dort in wenigen Jahren als erfolgreicher Händler, Unternehmer und Bankier bewiesen hatte.

Emanuel, der den Beruf des Textilkaufmanns erlernt hatte, zog selber vermutlich 1894 oder 1895 erstmals nach Konstanz, wie man einem Eintrag des Ein­wohnerbuchs von Konstanz aus dem Jahr 1896 ent­nehmen kann, hier ist er als Kaufmann in der Kanzlei­straße 7 eingetragen. Möglicherweise hat er Konstanz dann auch noch mal verlassen.(1)

Ab 1898(2) war er als Kaufmann in der Scheffelstraße 2 gemeldet, um 1899 hat er dann sein „Manufaktur­warengeschäft E. W. Levinger“ in der Bodanstraße 16 eröffnet, hier hatte er damals auch seinen Wohnsitz.

Nur wenige Jahre später erwarb er das 1880 erbaute Haus in der Bahnhofstraße 10, in dessen Erdgeschoß er das später wohlbekannte Manufakturwaren­ge­schäft E. W. Levinger viele Jahre erfolgreich führte. Das Wäsche- und Aussteuergeschäft war aufgrund der guten Warenqualität sehr geschätzt. Viele Familien kauften hier die Aussteuer für die Tochter.

Emanuel Levinger heiratete die 1880 in Bretten geborene Helene Geismar, die als Tochter des Kantors und Religionslehrers Alexander Geismar in Konstanz aufgewachsen war.

Das Paar bekam zwei Töchter, Klara (Klärle) und Elise (1903), genannt Liesel, die spätere Frau von Erich Bloch. Die Familie, deren Privatwohnung in der 2. Etage der Bahnhofstraße 10 lag, war religiös und es wurde in der Regel auch auf die koschere Zubereitung der Speisen geachtet, insbesondere zu den Feier­tagen. Erich Bloch berichtete, dass sein Schwieger­vater Emanuel zu Pessach streng darüber wachte, dass an Pessach verbotene Speisen nicht einmal im Hause waren.

Für sein Geschäft musste Emanuel Levinger häufig reisen, um seine auch weiter entfernteren Kunden zu betreuen und die Warenmuster zu zeigen. Noch vor 1933 gab es während einer solchen dienstlichen Reise eine Episode, die dazu führte dass ein verleum­derischer Artikel über Emanuel Levinger im „Stürmer“ erschien: Bei einer Reise im Gebiet von Friedrichs­hafen-Ravensburg war Emanuel Levinger auf ein Taxi angewiesen und erkundigte sich vorab nach dem Preis. Dieser erschien ihm wohl zu hoch und er bot einen niedrigeren Preis. Der Taxifahrer verfasste daraufhin einen Bericht mit schärfsten antisemiti­schen Hetzparolen, der nicht nur Emanuel Levinger, sondern auch seine Kunden verunsichern und ihren Ruf schädigen sollte.

Infolge der ersten Boykotte jüdischer Geschäfte im März 1933 brachen die Umsätze im Geschäft schnell ein und Emanuel Levinger verlor viele wichtige Kunden, oftmals Beamte, denen es fortan verboten war, in jüdischen Geschäften einzukaufen. Aufgrund seines Alters, vor allem aber aufgrund der bereits gemachten Erfahrungen mit antisemitischer Hetze, sah Emanuel keine Zukunft mehr in seinem Geschäft, das er weit über 30 Jahre in Konstanz geführt hatte. Mit 68 Jahren wollte er auch keinen Neubeginn als Handelsreisender wagen, zumal er auch auf seinen Geschäftsreisen schlechte Erfahrungen gemacht hatte.
 

Er verkaufte sein Geschäft und das Haus bereits im September 1933 und wollte Konstanz und dem täglich zunehmenden Judenhass den Rücken kehren.
 

Sein Laden und das Haus wurden von einem Nachfolger erworben, der den Laden als Betten-, Wäsche- und Aussteuergeschäft weiterführte. Der Laden lief jedoch nicht mehr so erfolgreich wie unter Emanuel Levingers Leitung und das Haus wurde wenige Jahre später weiter verkauft, der Laden damit endgültig geschlossen. Die neue Besitzerin stellte 1940 einen Antrag auf Umbaumaßnahmen, da sie in dem Gebäude eine Pension mit Fremdenzimmern ein­richten wollte. So wurde der Ladeneingang geschlos­sen und aus dem ehemaligen Ladenraum der Speise­raum.
 

Als Emanuels Schwiegersohn Erich Bloch, der Mann seiner Tochter Liesel, bereits im Frühjahr 1933 beschloss, seinen Lebens- und Arbeitssitz auf das Jahre zuvor erworbene Landgut in Horn zu verlegen, ergab sich auch für Emanuel und seine Frau Helene die Gelegenheit schnell Konstanz zu verlassen: Erich Bloch unterstützte seine Schwiegereltern, indem er ihnen in einem Teil der nicht mehr landwirtschaftlich genutzten Scheune seines Gutes eine bescheidene Wohnung einrichtete. Emanuel und Helene verbrach­ten hier im einigermaßen geschützten Umfeld ein paar ruhigere Jahre.
 

Spätestens mit dem erlebten Gewaltausbruch und Terror der Reichspogromnacht, der auch in den ab­ge­­schie­de­nen Landgemeinden ausbrach, wurde auch Emanuel und seiner Frau Helene klar, dass man um sein Leben zu retten, das Land und die Heimat komplett verlassen musste.
 

Tochter Klärle und ihr Mann hatten Deutschland bereits Anfang 1938 mit dem Ziel New York verlassen. Auch der Schwiegersohn Erich Bloch und dessen Vater, Dr. Moritz Bloch, waren in Horn bzw. in Konstanz von der SS lebensgefährlich verletzt worden und man versuchte, alle Kontakte zu mobilisieren um noch eine Bürgschaft und ein lebensrettendes Visum zu erhal­ten.
 

Tochter Klärle versuchte aus den USA ein Zertifikat für ihre Eltern und die Familie der Schwester zu besorgen. Emanuel Levinger beantragte in Stuttgart das Visum, doch aufgrund der begrenzenden Quoten lag seine Vormerknummer in einem Bereich, wo mit Auswanderung erst nach einer Wartezeit von mindes­tens sechs Jahren zu rechnen gewesen wäre. Für Emanuel und seine Frau ergab sich jedoch die Möglichkeit, zunächst mit einem Transitvisum nach England zu reisen.
 

Durch die Umstände, den für die nötige schnelle Aus­reise erzwungenen Verkauf des Landguts von Erich Bloch in Horn und um die benötigten umfang­reichen Formalitäten und Vorbereitungen treffen zu können, zogen Emanuel und Helene gemeinsam mit Erich Bloch, Tochter Liesel und den drei Enkelkindern im Frühjahr 1939 wieder zurück nach Konstanz.
 

Hier konnten sie in der Wohnung von Emanuels Schwiegermutter unterkommen, die kurz zuvor in die USA ausreisen konnte und dabei fast ihren komplet­ten Hausrat hatte zurücklassen müssen.
 

In Konstanz waren sie offiziell ab dem 4. April 1939 als neu zugezogen von Horn am See gemeldet.(3) Hand­schriftlich wurde auf der Karteikarte von Emanuel Levinger vermerkt, dass er in der nächsten Woche nach London auswandere.(4)
 

Nur wenige Wochen vor Ausbruch des Zweiten Welt­kriegs konnte Emanuel Levinger am 7. August 1939 schließlich Konstanz nach England verlassen.
 

Ihr Umzugsgut, das in Hamburg zwischengelagert war, wurde allerdings von den deutschen Behörden beschlag­nahmt. Aus den knappen Ersparnissen, die ihnen dann noch geblieben waren, lebten sie dort unter sehr schwierigen finanziellen Bedingungen. Die Weiterreise zur Tochter in die USA war ihnen erst 6 Jahre später, nach Kriegsende, möglich.
 

Emanuel Levinger starb am 27. März 1949 in New York.

Recherche: Schüler und Schülerinnen der Hegau-Bodensee-Seminargruppe „Spurensuche“: Jessica Böhme, Franziska Eble, Paul Ellsiepen, Linus Kulman, Tim Kuppel, Gaia Quintini, Jasmin Ye mit Petra Quintini und Manuel Boxler
Patenschaft: Alexander Stiegeler

Quellen & Literatur:

Datenbank des Jüdischen Museums Hohenems, Abruf 3.1.2024.
Alphabetisches Einwohner-Verzeichnis der Großherzoglich Badischen Kreishauptstadt Konstanz für das Jahr 1894. Konstanz: Stadler.
Alphabetisches Einwohner-Verzeichnis der Großherzoglich Badischen Kreishauptstadt Konstanz für das Jahr 1896. Konstanz: Stadler.
Alphabetisches Einwohner-Verzeichnis der Großherzoglich Badischen Kreishauptstadt Konstanz für das Jahr 1898. Konstanz: Stadler.
Alphabetisches Einwohner-Verzeichnis der Großherzoglich Badischen Kreishauptstadt Konstanz für das Jahr 1899. Konstanz: Stadler.
Einwohnerbuch der Kreishauptstadt Konstanz einschließlich des Ortes Wollmatingen für das Jahr 1928. Stadler: Konstanz.
Einwohnerbuch der Kreishauptstadt Konstanz einschließlich des Ortes Wollmatingen für das Jahr 1933. Stadler: Konstanz.
Einwohnerbuch der Kreishauptstadt Konstanz und Umgebung 1934. Stadler: Konstanz.
Stadtarchiv Konstanz: Karteikarten der Einwohnermeldedatei.
Erich Bloch (1992). Das verlorene Paradies. Ein Leben am Bodensee 1897-1939. Sigmaringen: Thorbecke.
Stadtarchiv Konstanz: Karteikarten der jüdischen Einwohnermeldedatei.
Schriftliche Auskunft von Angehörigen (E-Mailverkehr mit I. G. vom 22.3.2014).
Archivalien des Staatsarchivs Freiburg: StAF F 166/3 Nr. 3490; F 166/3 Nr. 5352; F 166/3 Nr. 5353; F 166/3 Nr. 5354; F 166/3 Nr. 5610.
Stadtarchiv Konstanz: Bauakte 322 (Bahnhofstraße 10).

Fotos: Privatarchiv Nachkommen der Familie Erich Bloch.

Fussnoten:
(1) So ist von ihm kein Eintrag im Adressbuch für das Jahr 1898 enthalten. Die Adressbücher enthalten in der Regel eine Auflistung der Einwohner zum Stand von Anfang Oktober des Vorjahres.
(2) Eintrag im Alphabetischen Einwohner-Verzeichnis der Großherzoglich Badischen Kreishauptstadt Konstanz für das Jahr 1899.
(3) Stadtarchiv Konstanz: Karteikarten der Einwohnermeldedatei.
(4) Im August 1939 wurde von den Konstanzer Behörden das am 30. April 1939 verabschiedete Gesetz über Mietverhältnisse mit Juden nach und nach umgesetzt. Im Zuge dessen konnten Behörden jüdische Mieter zum Verlassen ihrer Wohnungen und zum Umzug in sogenannte Judenhäuser zwingen. Vorbereitungen dazu und Befragungen aller jüdischen Mieter fanden in diesem Zeitraum statt.
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Familienmitglieder

Helene
LEVINGER, geb. GEISMAR

1880 - 1973 I
Bahnhofstraße 10