Anna
WIELER, geb. GUGGENHEIM

1882 - 1974 I
Schützenstraße 30
Stolperstein verlegt am 03.05.2017
Anna WIELER, geb. GUGGENHEIM Schützenstraße 30

Von der Zwangsumsiedlung in ein „Judenhaus“ bis zur Flucht in die Schweiz und schließlich in die USA

Anna Wieler wurde am 24.8.1882 in Konstanz als Tochter des aus Gailingen stammenden Salomon Guggenheim und seiner Frau Fanny, geb. Mayer, geboren. Ihre Eltern wohnten damals in der Wessenbergstraße 26.

Anna hatte drei Geschwister: Ignaz, Melanie und Hilda. Vor allem mit ihrer Schwester Melanie, verheiratete Picard, blieb sie zeitlebens eng verbunden.

1904 heiratete sie Berthold Wieler. 1905 wurde ihre Tochter Erika geboren, im folgenden Jahr der Sohn Ludwig. Die Familie wohnte zunächst in der Emmis­hofer Straße 10, dann in der Bodanstraße 34 und ab 1913 in der Schützenstraße 30. In den 1930er-Jahren wurde die Straße nach dem damaligen Reichsarbeits­minister in Franz Seldtestraße umbenannt.

Im Oktober 1939 musste das Ehepaar Wieler – die Kinder lebten inzwischen nicht mehr in Konstanz – in ein sogenanntes „Judenhaus“ in der Döbelestraße 4 ziehen, eine Folge des „Gesetzes über Mietverhält­nisse mit Juden“ vom 30.4.1939. Ein Jahr später, am 22.10.1940 wurde Anna Wieler zusammen mit ihrem Ehemann Berthold, dessen Vetter David Wieler, ihrer Schwester Melanie, verheiratete Picard, und über 100 anderen Konstanzer Juden nach Süd­frankreich deportiert.

Ein Bericht Anna Wielers über die Ereignisse bei der Deportation ist dank ihrer Tochter Erika überliefert

Am Morgen des 22. Oktober 1940 kamen zwei Gestapoleute in unsere Wohnung und teilten meinem Mann und mir mit, dass wir packen sollten, da wir in 20 Minuten die Wohnung verlassen müssen. Alle Juden ahnten schon etwas dieser Art und hatten auch einiges zurechtgelegt. Aber bei dieser Aufregung konnten wir trotzdem nicht in dieser kurzen Zeit das Richtige an Kleidern, Wäsche und Decken usw. einpacken. Wir wurden mit einem Auto nach dem Güterbahnhof gefahren, wo schon sehr viele jüdische Mitbürger versammelt waren. Dort waren alle etwa 5 Stunden, bis der Zug mit den Juden aus dem übrigen Bezirk kam, zusammengepfercht und niemand wusste, wohin es ging. Zwei Tage und Nächte ging die Fahrt und wir bekamen nichts zu essen, nicht einmal Wasser, bis ein Pfarrer in Frank­reich bei einer Haltestelle mit Hilfe alter Landleute Brot, Wasser und Milch für die Kinder gab. Wo das war, erinnere ich mich nicht mehr.“ (Bloch, S. 170)

Bereits im November 1940 – seit der Deportation war gerade mal ein Monat vergangen – wurde die Wohnungs­einrichtung der Familie in Konstanz verstei­gert. Eine Inventarliste des Gerichtsvollziehers zeigt, dass es sich um eine gutbürgerliche Einrichtung der damaligen Zeit (Salon Mahagoni, Wohnzimmer Eiche, Klavier Marke Röhmhildt, Perserteppiche, Speise- und Kaffee­service der Firma Hutschenreuter, etc.) han­delte.

Am 25. Oktober trafen die Deportierten in Gurs ein, wo Männer und Frauen getrennt wurden. Anna Wieler wurde in Ilôt (Block) K, Bâtiment (Baracke) 13 unter­ge­bracht. Die Zustände im Lager waren schlimm, auf­grund starker Regenfälle war es sehr schlammig. Anna Wieler rutschte im Schlamm aus und brach sich den Unterarm in der Nähe des Handgelenks.

Über die Zeit im Lager Gurs berichtet Anna Wieler:

In Gurs ist es furchtbar gewesen, so dreckig und primitiv die Baracken […]. In einer Baracke wohnte ich zusammen mit 60 Frauen. Wir alle lagen auf Stroh auf dem Boden. Die Männer waren durch Stachel­draht getrennt in andern Baracken und man konnte sich nur bei Beerdigungen sehen in Begleitung der Polizei. Alle Leute waren krank an Ruhr und Erkäl­tungen und sind wie Fliegen gestorben. Die Latrinen waren unbe­schreib­lich, 2 Blocks zum Laufen, ein Loch und sonst nichts. Dabei bin ich einmal im Schmutz ausge­rutscht, der Schuh ist stecken­geblieben und beim Herausholen aus dem Dreck bin ich gefallen und habe das Handgelenk gebrochen. Als Behandlung bekam ich ein halbes Aspirin und nach zwei Wochen bekam ich einen Gipsverband. Da der Doktor in Gurs keine Instrumente besaß, musste ich nach 6 Wochen allein den Gipsverband abstreifen, wobei die ganze Hand blutig gerieben wurde. Die Hand ist heute noch krumm und hat keine Kraft.“ (Bloch, S. 170/171)

Ab dem 5. März 1941 erhielt Anna Wieler zusammen mit ihrem Mann Berthold eine Aufenthaltserlaubnis für die Gemeinde Gan bei Pau, wo sie vermutlich aufgrund ihrer angeschlagenen Gesundheit und ihres Alters im Krankenhaus/Pflegeheim „Le Blancat“ untergebracht waren, aber unter polizeilicher Aufsicht standen. Die Aufenthaltserlaubnis wurde jeweils für einen Monat verlängert.
Am 7. Juli 1942 konnten die Eheleute in die Schweiz ausreisen, die genaueren Umstände sind nicht bekannt. Es ist jedoch davon auszugehen, dass die Verwandten in der Schweiz sich für eine Einreise­genehmigung eingesetzt hatten.

Zunächst wohnten Anna Wieler und ihr Mann in Lengnau im Kanton Aargau, ab 1944 waren sie in Baden/Schweiz in der Dynamostr. 1 gemeldet.

Berthold Wieler war nach seiner Rückkehr aus Süd­frankreich psychisch und physisch krank und starb im April 1948 in Baden. Im Oktober desselben Jahres emigrierte Anna Wieler in die USA, wo sie bei ihrer Tochter Erika, verheiratete Rinaldy in Los Ange­les­/Kalifornien lebte. Der Sohn Ludwig wohnte inzwischen in Israel.
Die betagte und ebenfalls schwer kranke Anna Wieler war im Alter auf die Unterstützung ihrer Tochter Erika angewiesen. Diese hatte nach schweren Anfängen als Haushaltshilfe und Köchin inzwischen einen eigenen Catering-Service für Familienfeste und Partys auf­gebaut und war laut Aussage des Konstanzer Frauen­arztes Semi Moos eine tüchtige und erfolgreiche Geschäftsfrau.

Anna Wieler starb am 15. Juni 1974 im Alter von 91 Jahren in den USA.

Recherche: Birgit Lockheimer
Patenschaft: Hausgemeinschaft Schützenstraße 30: Constanze Brahn, Eheleute Gordon-Kühl, Eheleute Langenbacher und Eheleute Müller-Fehrenbach

Quellen & Literatur:

Stadtarchiv Konstanz: Einwohnermeldekartei, Manuskript Semi Moos, Adressbücher.
Staatsarchiv Freiburg: „Wiedergutmachungsakten“ Anna Wieler, Signatur STAF F166/3 4871, 5012, 6189, STAF F196/1 4098.
Archives départementales des Pyrénées-Atlantiques, cotes 72 W 70 et 332.
Todesanzeige Berthold Wieler im „Aufbau“, Friday, April 2, 1948.
Privatarchiv Familie Wieler: Briefe Irma Wieler, Manuskript Robert Wieler.
Erich Bloch: Geschichte der Juden von Konstanz im 19. und 20. Jahrhundert. Eine Dokumentation, Konstanz 1971, 3. Auflage 1996.
Raffael Wieler-Bloch: Richard Liebermann. Der gehörlose Porträt- und Landschaftsmaler 1900-1966, hrsg. von Erhard Roy Wiehn, Konstanz 2010.
Erhard Roy Wiehn (Hg.): Camp de Gurs. Zur Deportation der Juden aus Südwestdeutschland 1940, Konstanz 2010.
Erhard Roy Wiehn (Hg.): Jüdische Gemeinde Kreuzlingen. 70 Jahre. Geschichte, Erinnerungen, Dokumente 1939-2009.
10) Tobias Engelsing: Das jüdische Konstanz. Blütezeit und Vernichtung, Konstanz 2015.
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Familienmitglieder

Melanie
PICARD, geb. GUGGENHEIM

1885 - 1957 I
Schützenstraße 16

Berthold
WIELER

1876 - 1948 I
Schützenstraße 30