Als der Konstanzer Alfred Spiegel am 11. Juli 1941 im Hafen von Santos in Brasilien an Land ging, war es ihm als einer der wenigen von den 112 Juden, die am 22. Oktober 1940 von Konstanz aus zwangsweise in das im Südwesten Frankreichs gelegene Internierungslager Gurs transportiert wurden (sogenannte „Bürckel-Aktion“), gelungen, noch das rettende Ziel in Übersee zu erreichen. Die direkte Ausreise von Konstanz nach Brasilien konnte er nicht mehr verwirklichen – die Bürckel- Aktion kam ihm zeitlich zuvor.
Alfred Spiegel wurde am 16. Dezember 1900 in Konstanz geboren. Seine Eltern Max und Bertha Spiegel, geb. Faller, waren Mitinhaber von zwei Herren- und Damenbekleidungsgeschäften in der Rosgartenstraße, die Firmen Spiegel & Wolf sowie Wolf & Co. Alfred Spiegel hatte noch drei Geschwister – den Bruder Ernst (*1893) und die Schwestern Erna (*1892) sowie Margarethe (*1902). Erna Spiegel war seit 1919 in Konstanz verheiratet mit dem jüdischen Rechtsanwalt Dr. Fritz Jung. Sie hatten zwei Töchter, Sybille und Elisabeth.
In realistischer Einschätzung der dramatischen Entwicklung der Lebensumstände für die Juden in Deutschland (und Europa) waren die drei Geschwister von Alfred Spiegel sowie der Schwager Fritz Jung bereits frühzeitig, Mitte der 30er-Jahre, nach Südamerika ausgewandert: Die Schwestern Erna mit ihrer Familie sowie Margarethe gingen nach Sao Paulo in Brasilien, der Bruder Ernst nach Montevideo in Uruguay. Sie gehörten zu jener Gruppe von jüdischen Auswanderern, die als Folge der „Nürnberger Gesetze von 1935 die zweite größere Auswanderungswelle während der NS-Zeit bildeten.
Alfred blieb noch in Konstanz und unterstützte die Eltern bis zu deren Tod (Vater Max starb 1935, Mutter Bertha 1938) bei der Führung ihrer Geschäfte. Ende 1938 wurden die Geschäfte „arisiert“. Jedoch blieben die Anteile an dem Grundstück in der Rosgartenstraße 16 (Geschäft) sowie an dem Wohnungsgrundstück in der Robert Wagnerstraße 44 (vormals Obere Laube 6) im Eigentum der Spiegels. In der Robert Wagner-Straße wohnte Alfred Spiegel bis zu seiner Abschiebung nach Gurs.
Die Schließung der Spiegel-Geschäfte ereignete sich etwa zeitgleich mit den Ereignissen der „Novemberpogrome“ am 9./10. November 1938. Im Zuge dieser Aktion wurde Alfred Spiegel, wie die meisten jüdischen Männer in Konstanz, am 12. November 1938 in das KZ Dachau eingewiesen. Er erhielt die Häftlingsnummer 23198 und wurde am 5. Dezember wieder entlassen. Es war eine relativ kurze Haftdauer, die möglicherweise dadurch begünstigt war, dass Alfred Spiegel im Alter von siebzehn Jahren im Ersten Weltkrieg noch einige Monate an der Front Kriegsdienst geleistet hatte.
Wie viele andere jüdischen Häftlinge, die nach dem 9. November 1938 in die Konzentrationslager des Reiches eingeliefert wurden und die bis dahin noch keine Auswanderung geplant hatten, bemühte sich Alfred Spiegel nach der Haftentlassung konkret darum, Deutschland schnellstmöglich zu verlassen und seinen Geschwistern nach Südamerika zu folgen. Das notwendige Affidavit (Bürgschaft für die Übernahme der Lebenshaltungskosten im Einwanderungsland) stellte die Familie seiner Schwester Erna in Sao Paulo. Das Affidavit wiederum war die Grundlage für die Erteilung des Einreisevisums der brasilianischen Einwanderungsbehörde. Die Genehmigung des „permanenten Aufenthalts“ in Brasilien wurde im brasilianischen Konsulat in Frankfurt/M. am 3. August 1940 im Reisepass von Alfred Spiegel eingetragen.
Alfred Spiegel hatte Glück, er hatte zum richtigen Zeitpunkt – noch vor der Abschiebung nach Gurs am 22. Oktober 1940 – alle notwendigen Unterlagen und Genehmigungen für das Einreisevisum vorlegen können. Ein weiterer glücklicher Umstand war, dass das brasilianische Konsulat in Deutschland, entgegen der restriktiven Vorgabe der brasilianischen Militärregierung, das Visum erteilt hatte.
Damit waren die bürokratischen Hürden für die Ausreise nach Brasilien zwar überwunden. Die Umsetzung der Ausreise zog sich jedoch hin. Der Andrang auf freie Schiffplätze nach Übersee hatte mit dem Verfolgungsdruck auf die europäischen Juden seit 1938 und 1939 stark zugenommen. Der „Anschluss“ Österreichs ans Deutsche Reich, die Besetzung des Sudetenlands und später der Tschechoslowakei sowie nicht zuletzt das Pogrom im November 1938 hatten auf die Juden in diesen Ländern einen starken Druck zur Emigration ausgeübt. Man spricht hier von der dritten Auswanderungswelle. Erschwerend kam hinzu, dass der Seekrieg im Atlantik die zivile Schifffahrt stark eingeschränkt hatte.
Kurzum: Alfred Spiegel konnte nach dem Erhalt des Einreisevisums nicht kurzfristig – in seinem Fall nicht innerhalb der verbleibenden Frist bis zur Abschiebung der badischen Juden nach Gurs – einen freien Schiffsplatz für die Passage nach Santos/Brasilien finden. Als die Gestapo dann am 22. Oktober 1940 die in Konstanz verbliebenen Juden ergriff und nach Gurs abschob, gab es auch für den auf der Warteliste für Auswanderung stehenden Alfred Spiegel keinen Dispens. Auf dem Transport nach Gurs waren auch Dagobert Guggenheim und Hugo Schriesheimer dabei, Kameraden aus dem Konstanzer Freundeskreis, der sich noch wenige Tage vor der Abschiebung erwartungsfroh und ahnungslos zu einem Erinnerungsfoto zusammengefunden hatte.
Die Abschiebung nach Gurs warf Alfred Spiegel in seinen Ausreisebemühungen nicht nur zeitlich zurück. Noch schlimmer waren die gesundheitlichen Beeinträchtigungen. Die Lageraufenthalte in Gurs und später in Les Milles lösten bei ihm eine starke Diabetes aus. Leidvoll war insbesondere die viermonatige Internierung im Lager Gurs. Die schlimmen Lebensbedingungen dort – insbesondere die katastrophalen hygienischen Verhältnisse und die völlig unzureichende Verpflegung – hatten in diesem Winter 1940/41 zahlreiche Todesopfer unter den aus Baden und der Saarpfalz abgeschobenen Juden gefordert.
Und so war Alfred Spiegel erleichtert, als er am 21. Februar 1941 von Gurs in das Transitlager Les Milles verlegt wurde. Die Bedingungen waren hier besser als in Gurs. Einen weiteren Vorteil konnte er aus der Nähe des Lagers zum Ausfuhrhafen Marseille erwarten.
Aber nicht aus dem im Südosten Frankreichs gelegenen Marseille gelang die Ausreise. Alfred Spiegel musste sich wieder zurück in den Südwesten Frankreichs begeben, um die schließlich bestätigte Überfahrt nach Brasilien antreten zu können: Ausreisehafen war Bilbao in Spanien, an der Grenze zu Frankreich gelegen.
Alfred Spiegel verließ das Lager Les Milles am 23. Mai 1941, er hatte damit gut vier Wochen Zeit, um das am 25. Juni 1941 in Bilbao auslaufende Schiff mit dem beziehungsreichen Namen „Cabo de Bueno Esperanza“ (deutsch: „Kap der Guten Hoffnung“) zu erreichen. Am 11. Juli lief das Schiff im Hafen Santos in Brasilien ein. Die Ausreise aus Europa erfolgte zu einem Zeitpunkt, als in allen von Nazi-Deutschland beherrschten Ländern schon ein offizielles Auswanderungsverbot für Juden galt. Sehr wahrscheinlich ist, dass der in Frankreich wartende Alfred Spiegel von den Rettungsaktionen des brasilianischen Botschafters in Frankreich, Luis Martins de Souza Dantas, profitierte. Dieser hatte entgegen den Weisungen seiner Regierung, die ein Einreiseverbot für jüdische Flüchtlinge erlassen hatte, einer größeren Zahl von auswanderungswilligen Juden die Ausreise aus Frankreich nach Brasilien ermöglicht.
In Santos wurde Alfred Spiegel von seinen aus dem nahen Sao Paulo gekommenen Schwestern Erna und Margarethe in Empfang genommen. Die Schwestern nahmen Alfred mit nach Sao Paulo, wo sie ihm eine erste Unterkunft besorgt hatten. Alle vier Geschwister Spiegel hatten damit den aus Sicht der verfolgten Juden „sicheren Hafen“ Südamerika erreicht. Erna, Margarethe und Alfred lebten nahe beisammen in Sao Paulo in Brasilien, Ernst im Nachbarland Uruguay. Es bestand somit die Möglichkeit, sich zu besuchen. Von der Besuchsmöglichkeit machte Ernst Spiegel im August 1951 Gebrauch, wie das vom brasilianischen Konsulat in Montevideo ausgestellte Einreisevisum belegt.
Wenige Monate nach seiner Ankunft in Sao Paulo, im November 1941, erhielt Alfred Spiegel die offizielle Bestätigung seiner Einbürgerung im Bundesstaat Sao Paulo.
Um nicht länger auf die Unterstützung seiner Schwestern angewiesen zu sein, startete Alfred Spiegel in Sao Paulo beruflich mit der Eröffnung eines Geschäfts mit Ersatzteilen für Radio und Fernsehen. Die Geschäftsräume befanden sich im Zentrum der Stadt, in der Rua 7 de Abril. Ganz sicher aber war das Leben in Sao Paulo, das früher wie auch heute als Hochburg von Verbrechen galt, nicht. Im Februar 1960 wurde Alfred Spiegel in seinen Geschäftsräumen überfallen und beraubt. Die lokale Presse berichtete, dass sich dieser Überfall im Rahmen einer ganzen Serie von spektakulären Überfällen im Geschäftsviertel der Millionenstadt ereignet hatte. Glücklicherweise überstand Alfred Spiegel den Überfall ohne Verletzungen.
Mitte der 50er-Jahre beantragte Alfred Spiegel beim Landesamt für Wiedergutmachung in Freiburg Restitution für seine Anteile an den Grundstücken Rosgartenstraße 16 und Obere Laube 44. Zugleich stellte er über ein Stuttgarter Anwaltsbüro Antrag auf Entschädigung für Schaden im beruflichen Fortkommen. Die Verfahren zogen sich über einen längeren Zeitraum hin. Am 24.10.1960 entschied die Entschädigungskammer des Landgerichts Freiburg auf eine Entschädigung von rund DM 50.000. Bei der Bemessung dieser Summe hatte sich die Entschädigungskammer an den steuerlichen Einkommen orientiert, die Alfred Spiegel in den Jahren 1931 bis 1937, also vor dem in 1938 verfügten Berufsverbot, deklariert hatte. Mit einem durchschnittlichen Einkommen von RM 10.000 – 11.000 pro Jahr galt er in jener Zeit als wohlhabend. Die Entschädigung wurde dringend benötigt, um die Kosten für die Behandlung seiner Zuckerkrankheit zu decken. Sein Einkommen war wegen eingeschränkter Erwerbstätigkeit stark zurückgegangen.
Alfred Spiegel starb am 17. Mai 1964 in Sao Paulo. Er wurde auf dem Jüdischen Friedhof von Sao Paulo, im Stadtteil Butanta, bestattet.