Geboren am 18. März 1925 in Konstanz
Letzter Wohnort in Konstanz: Blarerstraße 32
22. April 1939 nach New York / USA geflohen
Fritz Ottenheimer starb am 17. Juni 2017 in Pittsburgh/USA
Am 1. Juni 2009 berichtete https://derstandard.at
Wenn US-Präsident Barack Obama diesen Freitag das ehemalige KZ Buchenwald besucht, wird ein alter Mann in Pittsburgh jeden Schritt, jede Geste mit großer Anteilnahme verfolgen.
Die Bilder aus Leipzig werden Fritz Ottenheimer bis an sein Lebensende verfolgen. Eine Lagerbaracke, abgebrannt bis auf die Grundmauern. Am Stacheldrahtzaun liegen Leichen. Ein Mann mit einem Holzbein hatte noch verzweifelt versucht, mit seiner Krücke die unterste Drahtschicht anzuheben. Bevor er ins Freie robben konnte, machte der Kugelhagel eines Maschinengewehrs alles zunichte, was er noch an Hoffnungen hatte.
Dreihundert Zwangsarbeiter, Belgier, Franzosen, Polen, hausten in der Baracke. Als die US-Armee schon kurz vor Leipzig stand, verrammelten die Wachleute Türen und Fenster mit Balken und Brettern, kippten Kerosin über das Holz und steckten alles in Brand. Vielleicht zehn Gefangenen gelang die Flucht, indem sie durch die Jauchegrube krochen. Alle wurden draußen erschossen.
„Wieso ließen die Wachen die Leute nicht laufen? Warum mussten sie das noch tun?“ Fritz Ottenheimers Stimme bebt, wenn er die Horrorszenen in dem Lager schildert, in Camp Erla, wie die U.S. Army es nannte. „Wie hat das geschehen können?“ Fast schüchtern. Die Frage stellt er auf Deutsch, nicht nur einmal.
Sonst zieht er das Englische vor. Nicht weil er Deutsch verlernt hätte, auch nicht aus Protest. Es strengt ihn einfach weniger an, Englisch zu sprechen. Geistig ist er hellwach, einmal pro Woche liest er in einer Schule für autistische Kinder. Körperlich ist er drahtiger, als es seine 84 Jahre vermuten lassen. Ein bescheidener, fast schüchterner Mensch.
Fritz Ottenheimer war 20, als er zurückkehrte nach Europa, ein GI aus New York. Doch seine Geschichte ist mehr als die Rückblende eines amerikanischen Soldaten. Es ist die Geschichte eines Deutschen, der als Jude aus seiner Heimat fliehen musste, Amerikaner wurde und für seine neue Heimat in den Krieg gegen Deutschland zog.
In Le Havre verließ er Europa, im Mai 1939, an Bord des Ozeandampfers „Washington“ . In Le Havre landete er wieder auf dem europäischen Festland, im März 1945, an Bord eines Kriegsschiffes. Mit dem 196th Field Artillery Battalion rollte er quer durch Deutschland, über Remagen, Fritzlar, Göttingen, an Weimar und Buchenwald vorbei nach Leipzig.
Sein Vater Ludwig betrieb in Konstanz ein Herrenausstattungsgeschäft, im Ersten Weltkrieg war er Frontsoldat gewesen, bis er kurz vor dem Ende verwundet wurde. Das Lazarett verließ Ludwig Ottenheimer mit einem steifen Arm. Und am 1. April 1933, als Adolf Hitler einen Boykott jüdischer Geschäfte anordnete, holte er seine Tapferkeitsmedaillen und legte sie demonstrativ ins Schaufenster. Es dauerte nicht lange, da redeten Konstanzer Bürger erregt auf den SA-Mann ein, der sich vor der Tür aufgepflanzt hatte. Den Laden eines Frontsoldaten zu boykottieren, das gehe nun wirklichzu weit. Irgendwann zog der Uniformierte ab. An dem Tag trug die Zivilcourage den Sieg über die Behördenmaschine davon, die Ottenheimers fühlten sich in ihrem Glauben bestärkt, dass es im Land Goethes, Schillers und Schopenhauers wohl bald vorbei sei mit dem Nazispuk.
Sein Vater half jüdischen Familien, die 1938 nach dem „Anschluss“ Österreichs aus Wien in die Stadt am Bodensee kamen, bei der Flucht in die Schweiz. Es war gar nicht so schwer, man brauchte nur die richtige Stelle zu kennen und durch den Grenzbach zu waten. Drei Konstanzer Polizisten waren behilflich.
Spätestens im November 1938, nach der Reichskristallnacht, dämmerte Ottenheimers, dass sie in Deutschland keine Zukunft mehr hatten. In Konstanz wurde die Synagoge gesprengt, nachdem es den Brandstiftern nicht gelungen war, sie niederzubrennen. Ludwig, der Frontsoldat, wurde von der Gestapo abgeholt und für einen Monat ins Konzentrationslager Dachau gesperrt. Er wusste, es war gefährlich zu bleiben. „Aber Massenmorde? Gaskammern? Niemals! Nie glaubten wir, dass so etwas in Deutschland passieren könnte.“
Tante Flora tritt ins Bild. Fritz Ottenheimer erzählt von den Mühlen der amerikanischen Einwanderungsbehörde. Tante Flora aus Übersee bürgte mit ihrem Vermögen dafür, dass ihre Verwandten dem amerikanischen Steuerzahler nicht zur Last fallen würden. Alles schien geregelt, der Termin im US-Konsulat in Stuttgart nur noch Formsache. Dann der Bescheid: Einreiseantrag abgelehnt! Der Konsul hatte Ludwigs steifen Arm gesehen und angezweifelt, dass der Kriegsinvalide seinen Lebensunterhalt allein verdienen könne. Onkel Sieg, ein zweiter Verwandter, musste zusätzlich bürgen.
Erst dreieinhalb Monate vor Kriegsbeginn durften Ottenheimers in Le Havre aufs Schiff. New York, die Bronx, wurde zur neuen Heimat. Heimgekehrt aus dem Krieg, profitierte er von der „G.I. Bill“ , die jedem Soldaten, der wollte, ein Studium garantierte.
Später wurde er Ingenieur für Kernkraftwerke. Seit 1950 lebt er in Pittsburgh. Bis 1968 sollte es dauern, eher er wieder einen Fuß nach Konstanz setzte.
1946, noch bei der Army, war er im Kurzurlaub in der Schweiz. Er fuhr an die Grenze, von wo er seine Heimatstadt sah. Damals konnte er sich noch nicht überwinden hinüberzugehen. Er brauchte 22 Jahre für diesen Schritt.
Und noch 1984, als er mit seiner Frau Goldie durch Europa reiste und sie auf dem Kölner Flughafen lange vor dem Schalter eines Beamten warten mussten, der Fritz‘ Pass überaus gründlich studierte, erlitt Goldie eine Panikattacke. „Wieso starrt er mich die ganze Zeit an? Frag ihn!“ Goldie Beruh, deren Eltern aus Polen stammen, hat im Holocaust fast alle Verwandten verloren. Dennoch, sagt Ottenheimer, zu einem Teil sei er Europäer geblieben in Pittsburgh: „Ich hab mich geweigert, die Musik aufzugeben, Beethoven, Schubert, Brahms, Bach.“
Andererseits habe er sich dem American Way of Life angepasst, sich leidenschaftlich dem Baseball verschrieben, „bis sie begannen, den Spielern mehr Geld zu zahlen als dem Präsidenten im Weißen Haus“.
Deutschland liegt weit in der Vergangenheit, nur seinen Namen, den hat er nicht amerikanisiert, anders als viele Einwanderer es tun, nicht nur geflohene Juden. „Ich will mich nicht verstecken hinter der Maske von jemandem, der ich nicht bin. Ich bin Fritz Ottenheimer.“ (Frank Herrmann aus Pittsburgh/DER STANDARD, Printausgabe, 2. Juni 2009)
Quelle: http://derstandard.at/1242317170385/Crossover-Der-stille-Schmerz-des-Fritz-Ottenheimer (Abruf 15. November 2017)
VIDEO: Fritz Ottenheimer, Würdigung 2013