Erhard Roy Wiehn: Oktoberdeportation

Zur Deportation der Juden aus Südwestdeutschland 1940
Die Lager Gurs und Rivesaltes als Vorstationen von Auschwitz

Zur Oktoberdeportation 1940

Genau vier Monate nach dem deutsch-französischen Waffenstillstandsabkommen mit seinem tödlichen Artikel 19 erfolgte am 22. Oktober 1940 die Deportation der badischen, pfälzischen und saarländischen Juden nach Südwest-Frankreich, also in den Zuständigkeitsbereich der Vichy-Regierung, und zwar zunächst in das Camp de Gurs am Fuß der Pyrenäen, –eine damals und bis heute wenig beachtete und doch spektakuläre Aktion, die in ihrer Art keinerlei Parallelen aufweist: Es war die erste sog. „Abschiebung“ von Deutschen durch Deutsche. Die Oktoberdeportation von 1940 bedeutete nicht nur das Ende des seinerzeit schon äußerst eingeschränkten jüdischen Lebens in Baden und der Saar-Pfalz, sondern zugleich das früher oder später vollstreckte Todesurteil für sehr viele dieser deportierten, völlig unschuldigen deutschen Bürgerinnen und Bürger, weil sie Juden waren.

Angehörige der Jüdischen Gemeinde Kreuzlingen, die bis 1938/39 alle der Israelitischen Gemeinde Konstanz angehört hatten, waren am 22. Oktober 1940 erschütterte Zeitzeugen dieser „Abschiebung“:

Robert Wieler: „… genauso überraschend wie der 9. November 1938 kam dann die Deportation nach Gurs, von einer Stunde auf die andere… Die Leute sind weggekommen, und wir wußten nicht wohin, keine Ahnung, kein Mensch konnte es einem sagen. Einer der Konstanzer hat aber den Mut gehabt, in Lyon eine Postkarte einzuwerfen an die Jüdische Gemeinde Kreuzlingen: ‚Wir sind auf dem Weg nach Süden, wohin, wissen wir nicht!‘ Die Post ging damals noch sehr schnell, und so hat man gewußt: Sie sind nicht nach dem Osten gekommen! Das war der erste Hinweis, und dann kamen Nachrichten aus Gurs, es kam Post, … die Post aus dem unbesetzten Frankreich in die Schweiz ging schnell…“ (Gespräch am 23.07.1985).

Erna Veit: „… mein Vater war 79, und vier Wochen nach seinem 79. Geburtstag ist er in Gurs gestorben. Aber er hätte auch hier sterben können…, also ich hätt‘ gewünscht, daß ihm das Schicksal erspart bleibt.“

Alice Guggenheim: „Wenn man sich vorstellt: die Leut‘ haben zugeschaut, wie sie die Menschen aus dem Haus raus auf die Lastwagen geschafft haben, sie haben sie rausgezogen, die sind nicht freiwillig gegangen, haben sie auf den Wagen raufgezogen und nachher in den Zug reingestopft!“

Erna Veit: „Jenen Dienstag vergesse ich nicht, an einem Dienstag ist es gewesen: Wir sind zusammengekommen bei meiner Schwägerin, bei der Emma; sie hat’s scheint’s gewußt oder irgend jemand hat gesagt: ‚Heut‘ sind alle fortgekommen!‘ –Ich hab‘ gemeint, mich trifft der Schlag, –da waren meine Eltern dabei! Und meine Schwester auch…“

Alice Guggenheim: „Sie haben eine alte Frau, die Schwester vom Lippmann, vom Kleider-Lippmann, auf der Tragbahre runtergeholt, –stellen Sie sich das mal vor: Die konnte nicht laufen, auf der Tragbahre haben sie die runtergeholt und in einen Lastwagen rein!“

Erna Veit: „Wirklich barbarisch!“(Gespräch am 10.09.1985)

Am 29. Oktober 1940 informierte SS-Obergruppenführer und General der Polizei Reinhard Heydrich als „Chef der Sicherheitspolizei und des SD“ den Gesandten und SA-Standartenführer Luther im Auswärtigen Amt, der „Führer“ habe die „Abschiebung“ der Juden aus Baden über das Elsaß und der Juden aus der Pfalz über Lothringen angeordnet; nach Durchführung der Aktion könne mitgeteilt werden,

„daß aus Baden am 22. und 23.10.1940 mit 7 Transportzügen und aus der Pfalz am 22.10.1940 mit 2 Transportzügen 6.504 Juden im Einvernehmen mit den örtlichen Dienststellen der Wehrmacht, ohne vorherige Kenntnisgabe an die französischen Behörden, in den unbesetzten Teil Frankreichs über Chalon-sur-Saône gefahren wurden.

Die Abschiebung der Juden ist in allen Orten Badens und der Pfalz reibungslos und ohne Zwischenfälle abgewickelt worden.

Der Vorgang der Aktion selbst wurde von der Bevölkerung kaum wahrgenommen.

Die Erfassung der jüdischen Vermögenswerte sowie ihre treuhände-rische Verwaltung und Verwertung erfolgt durch den zuständigen Regierungspräsidenten.

In Mischehe lebende Juden wurden von den Transporten ausgenommen.“

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