von Hans-Hermann Seiffert
Konstanz, Mai 2011
Schicksal
Es waren zwei glückliche Umstände, die es dem jüdischen Ehepaar Goldmann ermöglichten, den ab Juli 1942 auch in der Freien Zone Frankreichs einsetzenden Deportationen der ausländischen und staatenlosen Juden in die Vernichtungslager im Osten zu entgehen: Als sie Ende August 1942 von der Vichy-Polizei an ihrem Aufenthaltsort in Idron erfasst wurden, blieben sie wegen ihres hohen Alters von dem Transport nach Auschwitz befreit. Hier griffen die Ausnahmebestimmungen des so genannten „Greisenparagraphen“. Als „Greise“ wurden jene Internierten qualifiziert, die das 60. Lebensjahr überschritten hatten.
Dieser Umstand allein reichte jedoch noch nicht für die Freistellung von der Deportation in den Osten. Hinzu kam noch der Zeitfaktor: Erst Ende August 1942, also zum Zeitpunkt der Erfassung der Goldmanns, wurde der bereits am 4. August 1942 von den Vichy-Behörden erlassene „Greisenparagraph“ einigermaßen durchgängig praktiziert. Noch nicht zur Anwendung kam die Bestimmung dagegen bei den Konstanzer Ehepaaren Moritz und Clothilde Neumann sowie Salomon und Toni Guggenheim. Auch sie hatten die kritische Altersgrenze überschritten, wurden gleichwohl aber in die Vernichtung geschickt. Ihr Unglück war, dass sie einem der ersten Transporte, die in der ersten Augusthälfte von Gurs bzw. Les Milles nach Auschwitz abgingen, zugeteilt wurden.1)
Das Ehepaar Goldmann hatte im Jahre 1914 seinen Wohnort nach Konstanz verlegt und dort in der Eichhornstraße 20 ein selbst erbautes Haus bezogen. Zuvor hatte der promovierte Zahnarzt nach Beendigung des Staatsexamens 1893 für zwei Jahre eine Assistentenstelle in den USA angenommen und danach ab 1895 eine Praxis in Stuttgart unterhalten. Durch die Heirat mit seiner Frau Klara und die Geburt der Tochter Margarete (30. Oktober 1907) begründete er im Jahr 1907 eine Familie. Danach trat die Familie Goldmann zum katholischen Glauben über. Wie sich zeigen sollte, schützte diese Konversion die Familie nicht davor, später von den Nazis als „Volljuden“ qualifiziert zu werden – mit allen Konsequenzen hinsichtlich Entrechtung, Verfolgung und Verschleppung.
Die Zahnarztpraxis in Konstanz betrieb Moritz Goldmann anfangs in der Schottenstraße 17, ab 1932 in der Bahnhofstraße 1. In der NS-Ära trafen ihn dann auch die Einschränkungen und Verbote in der Berufsausübung für jüdische Freiberufler.
Im Anschluss an die Reichspogromnacht vom 9.November 1938 wurde Moritz Goldmann – wie viele andere jüdische Männer aus Konstanz – in das Konzentrationslager (KZ) Dachau gebracht und in die so genannte „Schutzhaft“ genommen. Seine Einlieferung wurde auf den 12. November datiert, unter der Häftlings-Nr. 23254. Dort wurde er relativ lange festgehalten – mehr als sechs Wochen, bis zum 28. Dezember 1938.
In Dachau blieb er in direktem Kontakt mit einem Konstanzer Kamerad, dem Rechtsanwalt Leopold Spiegel. Dieser beriet ihn auch bei der Abwicklung der Schenkung, mit der Moritz Goldmann seine Immobilie in der Eichhornstraße auf seinen Schwiegersohn, den Werbekaufmann Walther Schwarz, übertrug. Während Moritz Goldmann noch in Dachau in Haft war, wurde der Schenkungsvertrag durch seine bevollmächtigte Ehefrau Klara am 08. Dezember 1938 abgeschlossen. Mit der Schenkung an den nicht-jüdischen Schwiegersohn konnte die drohende „Arisierung“ der Immobilie, also der erzwungene Verkauf – zu der Zeit dann zu einem Preis deutlich unter dem Verkehrswert – an einen nichtjüdischen Käufer, verhindert werden. Ein weiterer „Erfolg“ dieser Maßnahme: Das Ehepaar Goldmann konnte in dem geräumigen Haus in der Eichhornstraße mit der Familie der Tochter wohnen bleiben und entging damit auch dem drohenden Umzug in ein so genanntes „Judenhaus“.
Hier in der Eichhornstraße hatte Moritz Goldmann sich, nach der erzwungenen Geschäftsaufgabe in der Bahnhofstrasse, mittlerweile seine Praxis eingerichtet – mit einem allerdings deutlich verringerten Patientenkreis. Er durfte jetzt nur noch jüdische Patienten behandeln.
Am 22. Oktober 1940 wurde dann das Ehepaar Goldmann gezwungen, das Haus in der Eichhornstraße auf Dauer zu verlassen: Es war der Tag, an dem die badischen und saarpfälzischen Juden im Rahmen der so genannten „Bürckel-Aktion“ aus Deutschland abgeschoben (Wortwahl des RSHA-Leiters Reinhard Heydrich2)) und in die von den Deutschen nicht besetzte Zone Frankreichs verfrachtet wurden. Die von der „Blitzaktion“ völlig überraschten Menschen, die nur wenig Gepäck (50 kg pro Person) und lediglich 100 RM mitnehmen durften, wurden in das Internierungslager Gurs, am Fuße der Pyrenäen, eingewiesen.
Die Goldmanns wurden von der Gestapo aus ihrem Haus abgeholt und zum Bahnhof Petershausen gebracht. Die Praxis in der Eichhornstraße wurde von der Gestapo versiegelt, die Einrichtung von dem beauftragten Transporteur Schilling abgeholt und später versteigert.
Nicht abgeschoben wurde glücklicherweise die Tochter Margarete. Sie und ihre beiden Kinder waren geschützt durch den nicht-jüdischen Vater. Die in so genannten „Mischehen“ lebenden Familien waren von der Deportation ausgenommen. Auch im weiteren Verlauf der NS-Herrschaft, die in den Kriegsjahren zu einer immer radikaleren Verfolgung des jüdischen Bevölkerungsteils führte, sollte Walther Schwarz mit seinem standhaften Bekenntnis zu seiner Familie zum Lebensretter für seine Frau und Kinder werden.
Nach Ankunft in Gurs am 25. Oktober 1940 wurde das Ehepaar Goldmann getrennt: Moritz kam in der Männerabteilung, genau im Ilôt E, Baracke 16, unter. Er war hier in Gesellschaft fast aller Konstanzer Männer. Klara wurde in der Frauensektion untergebracht – im Ilôt K, Baracke 203). Im gleichen Ilôt konnte sie auch die anderen Konstanzer Frauen treffen.
Aus diversen Berichten wissen wir, dass die Lebensbedingungen in dem Lager katastrophal waren: Hunger, Kälte und Krankheiten forderten im ersten Winter 1940/41 eine Vielzahl von Todesopfern. Zwar bekamen die Konstanzer Juden etwas Unterstützung aus der Schweiz durch die Israelitische Gemeinde Kreuzlingen, aber eine ausreichende Versorgung mit Nahrung und Kleidung war dadurch nicht gewährleistet.
Klara und Moritz Goldmann überlebten den harten Winter, waren allerdings durch Krankheit geschwächt. Wie auch andere Inhaftierte, die Verbindungen in das neutrale Ausland hatten, versuchte Moritz Goldmann nun, für sich und seine Frau eine krankheitsbedingte „Beurlaubung“ aus dem Lager Gurs zu erreichen. Hierfür suchte er Hilfe bei einem früheren Kommilitonen aus seiner Studienzeit in Zürich, dem schweizerischen Obristen Fritz Zeller-Camenzind, wohnhaft in Zürich. Diesen bat er, die für eine Unterbringung in einem Privatquartier notwendige finanzielle Bürgschaft zu übernehmen.
Fritz Zeller erfüllte die Bitte und avisierte dem zuständigen Präfekten des Départements Basses Pyrénées mit Schreiben vom 3. März 1941 (siehe Downloads) die Überweisung eines Betrags von Sfr. 2.500. Danach lief das Genehmigungsverfahren für die so genannte Liberierung, also die temporäre „Beurlaubung“, aus dem Lager Gurs an. Am 23. April 1941 verließen Moritz und Klara Goldmann das Lager Gurs und zogen in ein Altenheim (Maison de Retraite) nach Idron, nahe bei Pau. In diesem Heim, das sich in einem alten, von einem idyllischen Park umgebenen Schloss befand, waren sie ungleich komfortabler untergebracht.
Ihre Erleichterung steigerte sich noch, als sie dort einige Leidensgefährten aus Konstanz trafen, denen ebenfalls die Beurlaubung aus dem Lager Gurs gelungen war. Es waren der RA Leopold Spiegel mit seiner Frau Betty und Sohn Helmut sowie Lina Hammel mit ihrer Tochter Johanna 4). Ein Foto, das vor dem Schloss Idron von einer Gruppe Internierter gemacht wurde, zeigt das Ehepaar Goldmann zusammen mit Lina Hammel und Tochter Johanna (obere Reihe). Das Bild vermittelt den Eindruck einer gelösten Stimmung innerhalb der Gruppe.
So ganz sorgenfrei war der Aufenthalt in dem Schloss allerdings nicht. Alle dort lebenden Juden befanden sich weiterhin in der Internierung, sie hatten lediglich das Quartier gewechselt. Und was hinzukam – die Beurlaubung galt zunächst immer nur für drei Monate. Danach musste eine Verlängerung beantragt werden, wobei dann immer die Finanzierung des Aufenthalts im Heim garantiert sein musste.
Aber den Goldmanns, wie auch den Spiegels und Hammels, gelang es, die Verlängerung der Beurlaubung weiterhin zu erwirken – zunächst bis Ende August 1942. Am 26. August 1942 wurden die Bewohner im Schloss Idron im Rahmen einer umfassenden Razzia der Vichy-Polizei überrascht. Jetzt sollten auch jene ausländischen und staatenlosen Juden in der Freien Zone erfasst und in die Vernichtungslager im Osten deportiert werden, die sich außerhalb der leicht zugänglichen Internierungslager aufhielten. Ausgenommen von der Deportation sollten jedoch alle über 60-Jährigen bleiben. Diese Ausnahmeregelung war mittlerweile sowohl den Polizeibehörden wie auch den Lagerleitungen bekannt gemacht worden.
In Idron wurden deshalb Moritz und Klara Goldmann, Lina Hammel und Leopold Spiegel 5), die alle über 60 Jahre alt waren, von dem Transport nach Auschwitz freigestellt. Nicht dagegen die unter 60-jährigen Johanna Hammel, Betty und Helmut Spiegel. Sie fuhren mit dem Transport Nr. 28 von Drancy nach Auschwitz und kamen dort bei Ankunft am 6. September in den Gaskammern zu Tode.
Moritz und Klara Goldmann sowie Lina Hammel blieben in der Folge weiter im Schloss Idron wohnen, und zwar bis zur Auflösung des Heims, nach Kriegsende im Juli 1945. Am 22. November 1943 wurde der Status der Internierung aufgehoben, so dass sie sich von da ab frei in Vichy-Frankreich bewegen konnten.
Nicht bekannt ist, wo sich Moritz und Klara Goldmann ab Juli 1945, nach Schließung des Heims in Idron, aufgehalten haben. Möglicherweise blieben sie auch die restlichen zwei Monate, bis zu ihrer Rückkehr nach Deutschland im September 1945, mit Lina Hammel zusammen. Von Lina Hammel wissen wir, dass sie in dieser Zeit noch in Bizanos, einem Nachbarort von Idron, Unterkunft fand. Dokumentiert ist dagegen, dass sowohl die Goldmanns als auch Lina Hammel am 20. September 1945 aus Frankreich zurückgekommen sind.
Während Lina Hammel nicht wieder nach Konstanz zurückging, sondern bei ihrer Tochter Erna Veit in Kreuzlingen Aufnahme fand, entschieden sich Moritz und Klara Goldmann, wieder in ihr Haus in der Konstanzer Eichhornstrasse einzuziehen – freudig begrüßt von der Familie ihrer Tochter Margarete. Trotz der in der Internierung erlittenen gesundheitlichen Beeinträchtigungen konnten beide noch viele Jahre, bis zu ihrem Tode, in ihrem selbsterbauten Haus weiterleben.
Wie fast alle überlebenden NS-Verfolgte beantragten auch Moritz und Klara Goldmann Anfang der 50er-Jahre beim „Badischen Landesamt für Wiedergutmachung“ in Freiburg Entschädigung für „Verlust an Eigentum und Vermögen“ sowie auch für „Schäden im beruflichen und wirtschaftlichen Fortkommen“. Die Verfahren zogen sich sehr lange hin. Aber immerhin erhielten sie noch zu Lebzeiten genügend finanzielle Gutmachung, um den Erben von Fritz Zeller jene 6.685 Schweizer Francs zurückzahlen zu können, die dieser für die schließlich lebensrettende Unterbringung des Ehepaars Goldmann in Idron aufgebracht hatte.
Nachtrag
Moritz und Klara Goldmann gehörten zu den ganz wenigen Juden, sowohl in Konstanz als auch in Deutschland, die die Verschleppung aus dem damaligen Reich und die anschließenden Strapazen der Internierung in Lagern überlebt und ihre Heimat nach Kriegsende wieder gesehen haben. Dies war ein kleiner, eher noch ein winziger Lichtschimmer in der grauenvollen Finsternis des Holocaust!
Ein besonderes Glück war es auch, dass die Tochter und die Enkel der Goldmanns, die gemäß den Rassegesetzen der NS-Machthaber als jüdisch bzw. halbjüdisch galten, während der Kriegsjahre in Konstanz bleiben und das Haus in der Eichhornstraße im Familieneigentum halten konnten.
Moritz und Klara Goldmann kehrten 1945 zurück nach Konstanz – an den Ort, an dem die von den Nazis ab 1933 praktizierten Verfolgungsmaßnahmen ihren Anfang nahmen. Für Lina Hammel kam eine Rückkehr nach Konstanz nicht in Frage. Natürlich hängt die Wahl der unterschiedlichen Anlauforte auch damit zusammen, dass die sie auffangenden Familienmitglieder in Deutschland und in der Schweiz lebten.
Aber viel entscheidender war hier sicherlich der Umstand, dass die jüdische Familie Hammel von den Verfolgungen der Machthaber des Dritten Reiches ungleich stärker betroffen war als die Familie Goldmann. Lina Hammel hatte den Tod ihres Mannes Gustav in Gurs und die Ermordung ihrer Tochter Johanna in Auschwitz zu beklagen: Ihre seelischen Verwundungen waren so groß, dass sie nie wieder in das Land der Täter zurückkehren wollte.
Solche Opfer brauchten Moritz und Klara Goldmann glücklicherweise nicht zu bringen, wenngleich auch sie sicherlich noch lange körperlich und seelisch gezeichnet blieben von den Schikanen im KZ Dachau (hier Moritz) und durch die Inhaftierung in Frankreich. Die Rückkehr in das vertraute örtliche und menschliche Umfeld – nach 5-jähriger, erzwungener Abwesenheit – kann deshalb durchaus als eine verständliche Handlung gesehen werden.